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Über 100 Jahre leben

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2020

Sanitas Health Forecast

Weltkriege, Wirtschaftswunder und hundert eigene Geburtstage: Trudi Stutz (100) und Carla Voirol (102) könnten ganze Bücherwände füllen mit Geschichten über ihr langes Leben. Was sie verbindet: Sie misstrauen Medikamenten.




Carla Voirol, 102


Angst vor dem Sterben hat Carla Voirol nicht. «Angst setzt sich überall ab – im Körper, den Knochen, dem Blut», so die gebürtige Bündnerin, dieam 19. Dezember ihren 102. Geburtstag feierte. Nach dem hundertsten Geburtstag, erzählt sie, sehe jeder Tag anders aus, für gewöhnlich tue es aber immer irgendwo weh. In der Cafeteria des Altersheims in Lachen, in dem Carla Voirol eine kleine Wohnung bewohnt, gebe es immer solche, die ihr vorjammern, was sie gerade plage. «Denen sage ich immer: Ja meinst du eigentlich mir tut nichts weh?» Ihre Augen, die sich in ihrem von tiefen Lebensfalten gezeichneten Gesicht zu verstecken scheinen, blicken eindringlich in die Augen ihres Gegenübers. Es ist ihr Ernst, das merkt man. Und doch ist da ein Schalk.


Viele fragen sie nach ihrem Geheimnis für ein solch langes Leben. Doch so geheim findet Carla Voirol das gar nicht. Man müsse halt aushalten, dass es manchmal wehtue. Und immer etwas machen. Zu viele Frauen und Männer würden sich nach der Pensionierung auf die faule Haut legen und sagen: Jetzt will ich nichts mehr machen. «Das ist pures Gift!», sagt die 102-Jährige mit einer erstaunlichen Vehemenz. Sie weiss, wovon sie spricht. Bis sie 95 Jahre alt war, lebte sie in ihrem Haus, sorgte für sich selbst. Sie führte den Haushalt, machte den Garten, mähte den Rasen. Mit 95 sehnte sie sich nach Ruhe – ein Fehler. Seitdem sei es bergab gegangen, sagt sie mit gebeugtem Rücken. Ein Eindruck, den man beim Besuch der betagten Dame nicht teilen kann. Der Händedruck fest, die Erinnerung lückenlos, die Aufmerksamkeit ungeteilt. Wenn sie dann, nach dem Streicheln des Pudels Dino, die Hosenbeine nach oben krempelt, um den Blick auf die beinah schon juvenilen Beine freizugeben, nimmt man ihr die 102 fast nicht mehr ab.


Hund Dino gleicht seinem Frauchen in mancherlei Hinsicht: beide mit weisser Haarpracht, die ab und zu unkontrolliert eine Locke wirft. Bei beiden soll das sympathische Aussehen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch mal scharf geschossen wird. Dino wird in diesem Jahr 16 Jahre alt, sieht nicht mehr gut und schnappt schon mal, wenn man sich ihm zu schnell nähert. Solange «der Kleine», der sie über den Tod ihres Mannes und der drei Söhne hinwegtröstete, da sei, bleibe sie auch, sagt Carla Voirol. Die Aufgabe, für ihn zu sorgen, halte sie am Leben. Ab und zu wundere sie sich schon, warum der liebe Herrgott sie noch nicht wolle, aber «dann bleibe ich halt noch ein bisschen. Es soll ja sogar solche geben, die 110 oder 120 Jahre alt geworden sind. Aber nicht hier, sondern in Gegenden, wo sie ein bisschen weniger von allem haben und darum zufriedener sind als wir.» Der Stress, alles haben zu müssen, setze sich – genau wie die Angst – in den Knochen ab und mache alt.


Von Ärzten hält Carla Voirol nichts, daraus macht sie bei meinem Besuch keinen Hehl. «Die haben meinen Mann auf dem Gewissen. Wollten ihn in die ‹Spinnwinde› (Anm. d. Red.: die Psychiatrie) schicken – obwohl er schwer krank war». Sie selbst gehe deshalb nie zum Arzt. Nur wenn es wirklich sein müsse, wie kürzlich als sie stürzte, sich am Bein verletzte und es einfach nicht aufhören wollte zu bluten. Keine Ärzte, keine Pillen, seit 50 Jahren. Nur ab und zu eine pflanzliche Arznei für die Blutzirkulation. Die habe ihr der Enkel, ein Drogist, empfohlen, und die nehme sie nun regelmässig. Manches Mal habe ihr der Arzt Tabletten verschreiben wollen. «Ich fragte, wofür, und er sagte nur: Sie müssen es nehmen. Da nahm ich es – und warf es in den Kübel.» Die beste Medizin sei sowieso der Verzehr von Zwiebeln, Knoblauch und selbst gesammelten Kräutern. Ihr Rat beim Abschied: «Blibend gsund und tüand gsund essa! Und gellend, wenner a kli Schmerza hend, isch nit aso schlimm!»





Trudi Stutz, 100


Dass sie einmal 100 Jahre alt werden würde, das hätte Trudi Stutz nie gedacht, auch nicht, dass sie sich mit 100 gar nicht so fühlen würde. «Eine so alte Frau, die würde ich mir ganz heruntergebückt und schwach vorstellen», sagt sie und imitiert dabei eine bucklige alte Dame.


Die Frau, die am 14. Oktober 2019 ihren 100. Geburtstag feierte, ist gesund. Der Kopf ist gut, die Arme und Hände auch, nur in den Beinen fehle ihr ab und zu ein wenig die Kraft. Trotzdem spötteltsie über «die alten Leute», die beim wöchentlichen Turnen nicht einmal mehr selber aufstehen, geschweige denn alleine stehen können. «Drum machen wir halt nur Übungen mit den Armen», sagt sie und demonstriert, quasi zum Beweis, während sie auf einem Stuhl in ihrem kleinen Zimmer im Pflegeheim Sarmenstorf sitzt. Sie könne noch wunderbar allein aufstehen und am Rollator gehen, sagt sie. Etwas Stolz schwingt mit. Überhaupt: Alles könne sie noch allein, nur die Stützstrümpfe, die müsse man ihr anziehen helfen.


Man kommt nicht umhin, ein wenig zu schmunzeln, wenn man Trudi Stutz so zuhört. Damals mit 97 Jahren, als sie noch zu Hause lebte und den ganzen Haushalt allein erledigte, damals habe sie beim Spaziergang am Altersheim vorbei immer gesagt: «Da gehe ich bestimmt nie hin. Das ist etwas für alte Leute.» Eineinhalb Jahre später musste sie dem Drängen ihrer Kinder dann trotzdem nachgeben und ihre Wohnung aufgeben. Es ging nicht mehr. Obwohl sie bis dahin immer fit gewesen war, dank der vielen Arbeit, des gelegentlichen Kafi Schnaps und des Verzichts auf Medikamente. «Ich habe kaum Tabletten genommen in meinem Leben, ging nie voreilig zum Arzt. Ich wusste: Am nächsten Tag gehts wieder besser.» Früher habe es auch gar nicht die Möglichkeit gegeben, wegen jedem Wehwehchen einen Arzt aufzusuchen. Solch einer war nicht in jedem Ort vertreten, das Geld für eine Konsultation hatten die wenigsten. Sie sei nie im Spital gewesen. Sie habe bestimmt Glück gehabt, habe keine schweren Krankheiten hinter sich, nie einen Knochen gebrochen, musste nie regelmässig Medikamente nehmen. Nichts. Erst im Altersheim, da gab es erstmals etwas für die Blase. Damals brach ihr nach der Einnahme der Tabletten der Kreislauf zusammen. Beim Frühstück landete sie neben dem Stuhl am Boden, meinte, sie müsse sterben. Aber auch da ging es ihr schon nach zehn Stunden wieder besser. «Wissen Sie, wenn man selten Medikamente nimmt, dann können die besser wirken, wenn es dann doch mal sein muss», ist die Hundertjährige überzeugt. Das allein helfe aber nicht. Man müsse halt etwas dafür tun, wenn man schnell wieder gesund werden wolle, sagt sie über den Rand ihrer Gleitsichtbrille hinweg. Und man müsse auch als Hundertjährige noch denken: Ich bin noch da, ich bin noch jemand. Und sich selber nicht aufgeben.


«Ich habe selber einfach gut geschaut auf mich, habe viel gearbeitet und viel geruht. Und viel gebetet, auch das ist wichtig.» Und etwas vom Wenigen, das die 1919 geborene Frau heutenoch tut. Auch wenn Körper und Kopf noch tüchtig sind, Augen und Ohren sind es nicht mehr. Die Makuladegeneration raubte ihr immer mehr vom Augenlicht, heute sieht Trudi Stutz beinahe nichts mehr – und nur noch in Schwarz-Weiss. Irgendwann da verabschiedete sich auch noch das Gehör. Das lässt die Tage einsam werden. «Ich kann nicht lesen, kann nicht stricken, kann weder fernsehen noch Musik hören, kann mich nicht mit anderen unterhalten und auch keine Kreuzworträtsel lösen.


Was würden Sie machen, wenn Sie so alt wären und weder sehen noch hören würden?» Die Frage hängt im Raum, ohne eine Antwort zu erwarten. Es sei manchmal zum Verrücktwerden, sagt sie dann kopfschüttelnd in die Stille hinein. Der Rosenkranz, dreimal täglich, «aber andächtig, nicht heruntergeleiert!», bewahre sie davor. Im Gebet verspürt die Frau mit dem strahlend weissen, ordentlich frisierten Lockenkopf Dankbarkeit – für das lange, gesunde und erfüllte Leben. Trudi Stutz, das merkt man, hat keine Angst vor dem Sterben. Ziele habe sie schliesslich keine mehr, denn das, von dem sie Jahre lang gesprochen hatte, ist erreicht: hundert Jahre alt zu werden.




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